ODYSSEE DER TRÄUME

Roman   (1. Kapitel)

 

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Österreich beginnt nach dem Ausgang

 

 

 

  „Setzen Sie sich ordentlich hin!“

  „Wie bitte?“

  „Sie haben mich genau verstanden. Entweder Sie setzen sich ordentlich hin, oder Sie verlassen mein Lokal. Jeglicher Austausch von Zärtlichkeit ist in meinem Betrieb verboten.“

  „Sie wollen mir allen Ernstes verbieten, den Arm um meine Frau zu legen?“

  „Ich dulde in meinem Restaurant keine Sexualität. Halten Sie sich an meine Regeln oder verschwinden Sie!“

  „Sie wissen schon, dass wir in Österreich sind und dies ein freies Land ist …“

  „Österreich beginnt nach dem Ausgang. Und nun raus!“

 

Mia stand – wie üblich – in sicherer Entfernung an der Bar. Ihr Kopf hämmerte. Wie dunkelgraue Regenwolken kumulierten sich die wieder und wieder erlebten Vorkommnisse. Bis sie sich in heftigem Donnergrollen entluden. Der maximal Vierzigjährige war so abrupt aufgestanden, dass der kleine quadratische Tisch rumpelnd zur Seite wich. Seine adrette Begleitung hatte die Augen aufgerissen, als liefe Godzilla mit weit ausgestreckten Armen auf sie zu. Mia fühlte sich in einer Endlosschleife. Wartete auf das wütend herausgewürgte 'Scheiß Ausländer!' des Gastes, das Milan als Startzeichen erkannte, um in Aktion zu treten. Sich den Kameras an der Decke und in den Bilderrahmen an den Wänden bewusst. Diese Tatsache gebot, den ungehorsamen Übeltäter nur sanft am Arm zu halten und ihn mit emotionslosem Nachdruck nach draußen zu befördern. Sollte der Kunde oder dessen Anhang Widerstand zeigen, würde er sich geschickt so positionieren, dass seine Hände auf keiner Kameraeinstellung zu sehen wären. Nach sieben Jahren in diesem Geschäft wusste er genau, wie er selbst nach einer gebrochenen Nase des Gastes vor Gericht gut dastand. Es gab kein soziales Netzwerk im Internet und keine Lokalzeitung, in der das 'Allegria' nicht schon negativ erwähnt worden wäre. In Zeitungen gezwungen sachlich, auf Internetseiten diverser Gruppierungen emotional und ehrlich.

  „Ein normaler Mensch würde sich schämen und auswandern“, pflegte Kevin zu sagen.

Aber Milan empfand jede Erwähnung, auch wenn sie noch so vor Negativität triefte, als Publicity. Wie sie es hasste! Manchmal war sie uneins mit sich, wen sie mehr verachtete. Milan für seine grenzenlose Arroganz, diese menschenverachtende Selbstherrlichkeit – oder Lena, die zwar am Papier Restaurantleiterin war, sobald Milan das Bedürfnis überkam, seine kranken Launen zu versprühen, aber dastand, als wäre sie plötzlich unfähig zu sprechen. Lena setzte ihr legendäres 'Ich kann nichts machen, bin nur ein winziges Rädchen in diesem Mikrokosmos'-Gesicht auf und versuchte verkrampft, sich ein beschwichtigendes Lächeln abzuringen. In einem Akt der komödiantischen Zurschaustellung ihrer groben Zähne. Mit einer an Laszivität grenzenden Handbewegung strich sie eine nicht vorhandene Haarsträhne ihrer burschikos wirkenden, blauschwarz gefärbten Kurzhaarfrisur aus dem übertrieben geschminkten Gesicht. Mit eingerastetem Lächeln suchte sie die schwarze, glänzende Granitplatte nach einer Beschäftigung ab. Erlöst griff sie nach dem gelben Lappen am Waschbecken und führte ihn routiniert in sanften Kreisen umher. Über den gesamten Barbereich. Als vermochte sich der Glanz der steinernen Platte, auf die Milan so stolz war, durch zwanghaftes Wischen verdoppeln.

  Er war überzeugt, als einziger in der Stadt, wenn nicht im ganzen Land, eine derart perfekt gemaserte und verarbeitete Granitplatte als Baroberfläche zu besitzen. Seine mit Selbstüberschätzung gespickte Einbildung hatte ihn zu einem Experten in Sachen Granit und Marmor gekürt. Mindestens weltweit. Entgegen den Handwerkern, die seine bautechnischen Pläne, meist ohne Rechnung, umsetzten. Ob er sie für loyal hielt, war ein höchst irrelevanter Faktor. Angeblich waren sie Jungendfreunde. Und gerne bereit, so manche Geheimnisse ihres Auftraggebers preiszugeben. Für Kaffee und Cola. Mia und Kevin sogen alle Einzelheiten lechzend auf wie den letzten Rest der Erdbeermilch im Glas. Den Namen des kleinen Dorfs weit im Süden von Kabul, in dem Milan das Licht seiner armseligen Welt erblickte, konnte sich keine der beiden Servicekräfte merken. Aber die Erzählungen seiner Landsleute und Zeitzeugen hatten sich in ihre Köpfe gemeißelt. Mit der bunten, gesättigten Vorstellung aller wissenswerter Details des kargen Lebens eines jungen Kleinkriminellen.

  Hasan, der afghanische Fliesenleger bekräftigte schwörend die hundertprozentige Vertrauenswürdigkeit seiner Aussagen. Wild gestikulierend erzählte er von Milans Flucht über die Berge nach Pakistan. Ob er erst dort das gestohlene Heroin seiner einstigen religiösen Gesinnungsgenossen versilberte, um nach Indien zu kommen, oder sich mit den gestohlenen Drogen schon in Afghanistan Fluchthilfe erkaufte, tat der horrenden Geschichte keinen Abbruch. Genauso wenig wie die kleine Lücke in seiner Biografie, die über das Datum seiner Namensänderung Spekulationen zuließ, mit Sicherheit aber an den Verlust seines Vollbarts gekoppelt war. Der Stempel des religiösen Fundis mit kriminellen Tendenzen war aufgedrückt. Wasserfest. Hasan drückte es in gemäßigtem, in Anbetracht seiner Optik leicht belustigendem Schweizerdeutsch treffend aus: „Bei Taliban die Turban auf die Kopf, bei Milan in die Kopf geblieben.“

Wie er Helga, die reizlose, dick bebrillte, pummelige österreichische Gerichtsbeamtin kennengelernt oder vielmehr gefunden hatte, blieb ein Rätsel. Wie er sie dazu bringen hatte können, ihn zu heiraten und ihm auf diese Weise den legalen Weg in ihr sozial sicheres sauberes Heimatland zu ebnen, ein weitaus größeres. Die ersten Monate in Österreich und damit in nahezu endloser Distanz zu seinen einstigen Schergen, genoss er notgedrungen, aber lustbetont auf Kosten seiner passabel verdienenden Gattin. Zwischen deren abbezahlter Eigentumswohnung und diversen Wettbüros. Bis der Weg zu Helgas Ersparnissen geebnet war, um einen Handel mit Steinfiguren für den Außenbereich zu eröffnen.

  Die Aushändigung des Gewerbescheins ließ ihn vom Spieler und Tagedieb zum seriösen Geschäftsmann mutieren. Wie den Frosch zum Prinzen, den Helga schon bald bereute, nicht an die Wand geschlagen zu haben. Nach knapp einem Jahr lag nicht nur die Ehe in Brüchen, sondern auch der Kopf der gutherzigen, aber leider weltfremden Ehefrau. Über den Körper verstreute hässliche Narben zeugten zusammen mit einem Schädelbasisbruch vom beziehungstechnischen Drama dieser Ehe. Auch das Handelsgewerbe erlag dem Konkurs. Letzteres war nicht weiter verwunderlich, denn Milan führte laut Augenzeugenberichten einen Lebensstil, als hätte er ein weltweites Monopol auf sämtlichen verfügbaren Erzeugnissen aus Stein. Über seine angebliche oder vielmehr allseits bekannte Pleite schwieg er konsequent. Niemand wagte es, ihn darauf anzusprechen und so einen lautstarken Monolog zu provozieren, der zweifelsohne in einem Wutanfall endete.

  Wenn Lena – wie jetzt – unter psychischem Stress stand, wirkte ihr Gang plumper als sonst. Optisch unterstützt von ihren stets flachen, schwarzen Markenschuhen. Klassisch und unauffällig, mit dem Sexappeal einer Nonne. Während sie mit schweren Schritten die Bar entlang trampelte, schien sie Selbstgespräche zu führen. Stumm. Mit groteskem, sich ständig ändernden Mienenspiel. Begleitet von nahezu ununterbrochenem Blinzeln. Das war ihre Art, sich zu beherrschen. Wahrscheinlich kochte sie innerlich, hätte Milan am liebsten ihre schon viel zu lange verhaltene Meinung ins Gesicht gekotzt. Vielleicht aber auch nicht. Niemand wusste das. Genauso wie sich wohl niemand ihr Leben außerhalb des 'Allegria' vorstellen konnte. Keine Menschenseele schien je die winzige Wohnung in der Nähe des Flughafens betreten zu haben, die sie mit ihrem Bruder teilte. Verhaltensoriginell, oder geistig zurückgeblieben. Darüber schieden sich die Geister. Bis auf zwei oder drei Prostituierte im obersten Stock zählte der Großteil der Bewohner des schäbigen Blocks aus den Siebzigerjahren nicht mehr zu den Jüngsten. Verständlich, dass sie sich lieber mit dem Verlauf der eigenen letzten Lebensjahre beschäftigten als jenem ihnen fremder Mitbewohner. Die kargen Informationen über Lenas weit kargeres Privatleben kamen vom Briefträger, der mit einem der afghanischen Handwerker verschwägert und zum Glück der Interessierten recht redselig war. Lenas Bruder bezeichnete er schlichtweg als 'Irren'.

  Kevin wünschte sich, wie üblich, ein Loch im Boden, um für immer darin zu verschwinden. Nachdem er den dunkelbraunen Fliesenboden hinter dem Tresen mit gesenkten Augen erfolglos danach abgekämmt hatte, suchte er Mias Blickkontakt. Wie froh er war, dass sie auch in diesem Psychoschuppen arbeitete. Eine drastischere Bezeichnung für das 'Allegria' fiel ihm nicht ein. Durch sie fühlten sich die Arbeitstage kürzer an. Vor allem jene raren, an denen er mit ihr allein über die Mittagszeit arbeitete, während Lena ihre spärliche Freizeit genoss und Milan seinen fragwürdigen Terminen nachging. Offiziell erledigte er Einkäufe für das Restaurant. Seine Angestellten genossen derweil die heiteren Momente im mitttäglichen Trubel. Beim Blick in Mias braune Augen löste sich ein Lächeln aus Kevins Anspannung. Ihre Gedanken schienen sich vor ihm auszubreiten: »Weißt du, wohin ich abhaue, wenn ich diesen Diktator endgültig satthabe? Nach Tadschikistan. Das perfekteste aller Länder. 70 Prozent der Menschen wissen nicht wo es liegt, und die anderen haben keine Ahnung wie man hinkommt. Die Sprache ist unmöglich zu lernen, und zwischen all den Schafen und den Menschen, mit denen ich nie reden muss, werde ich dann glücklich.«

  Kevin erinnerte sich, dass Mia bei dieser Bekundung nicht lachte. Zwar gehörte er ebenfalls zu besagten 70 Prozent, aber noch schlimmer war, dass ihm die Klarheit fehlte, was er für sie empfand. Er wusste nur, dass er sie finden würde, falls sie irgendwann nicht mehr da sein sollte. Auch wenn seine Mutter kein Verständnis für Abenteuer dieser Art aufbringen würde. Selbst mit der Gewissheit, dass sie ihre Drohung wahrmachen würde, sein Zimmer mit Blick auf den Hinterhof an eine Studentin zu vermieten. Eine, die ihr Engagement im Haushalt zu schätzen wusste.

  „Sollen diese zwei Perverslinge doch ihre Triebhaftigkeit ausleben, wo sie wollen!“, polterte Milan und stapfte hinter die Bar.

  Sein von Abscheu geprägter Gesichtsausdruck war für Mia immer der beste Beweis für seine unbefriedigende Lebensweise. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Eine Mischung von Kaffee, den Kevin gerade für Tisch fünf braute, und Lenas ordinärem Parfum kroch in ihre Nase. Mit hochgezogenen Augenbrauen warf sie ihrem Arbeitskollegen einen flüchtigen Blick zu und machte sich daran, die Gäste nach dem Zwischenfall zu betreuen. Die beiden deutschen Touristen von Tisch zwölf bestellten zweimal Spaghetti Carbonara. Mia nahm die Bestellung mit einem Lächeln und einem „Sehr gern“ entgegen. Innerlich empfand sie Mitleid mit ihnen, vor dem teuer erstandenen Teller mit Nudeln. Zwar von einem österreichischen Küchenchef gekocht, aber unter Milans Anweisung mit viel Zwiebel, billigstem Bratensoßenpulver in der Sahne und qualitativ wertlosem Pressschinken. Der gelegentlich schimmlige Rand natürlich abgeschnitten. Mia hatte sich an den Umstand gewöhnt, dass sie viele Gäste nie wiedersehen würde. Sechs Monate war es her, dass Ferenc, der ungarische Koch, eines Abends verschwunden und, wie vom Erdboden verschluckt, nie wieder aufgetaucht war. Dass sein blaues Auge an seinem letzten Arbeitstag nicht von einem heruntergefallenen Kochtopf stammte, konnte sich jeder ausrechnen. Aber niemand wollte es in Milans Anwesenheit zur Sprache bringen. Auch nicht Ferenc‘ Hinken am Tag zuvor und die unzähligen blauen Flecken an den Armen dieses klapperdürren, kleinen Mannes.

  Als Kevin Mias Weg kreuzte, hätte sie gern ihre Finger durch die blonden, stets akkurat geschnittenen, kurzen Haare gleiten lassen. Aber sie unterließ es. Wie immer. Schon Milans wegen, der seine Angestellten im Büro neben dem Getränkelager im Untergeschoss am monströsen Bildschirm beobachtete. Beim Gang über die Treppe nach unten drehte er sich kurz um und grinste sie an. Fies. Mit der unmissverständlichen Botschaft, dass ihm das Verbot, Mitarbeiter mittels Kamera zu überwachen, nicht nur egal war, sondern er diese Aufzeichnungen sogar speichern würde. Das österreichische Recht war für ihn eine Lachnummer. Jeder Verstoß gegen das Gesetz, der bis dato aus unerfindlichen Gründen vor Gericht zu seinen Gunsten entschieden wurde, bestärkte ihn in verwerflichem Denken und Handeln.

  Mia sah auf die Uhr: 14.30. Ihre letzte halbe Arbeitsstunde für diesen Tag hatte begonnen. Sie hoffte inständig, dass die Gäste bis Dienstschluss weder homosexuell noch behindert oder anderweitig abartig in Milans Augen waren. Die peinlich kleinen Portionen minderwertigen Essens servierte sie mit einem gewinnenden Lächeln. Notfalls mit einem zusätzlichen lustigen Spruch. In der Hoffnung, den Gästen das Gefühl zu geben, die Speisen wären mit Liebe, anstatt von einem unterbezahlten, und zu nicht abgegoltenen Überstunden genötigten Koch zubereitet. Der glänzende Zeiger auf der geschmacklosen Edelstahluhr an der ockerfarbenen Wand über der Kaffeemaschine war endlich auf zwölf gesprungen und zeigte mit seinem kürzeren, schwarzen Pendant auf drei. Zeit, ihre Schürze zusammengelegt im Schränkchen neben der Schankanlage zu verstauen.

  Lena hantierte konzentriert mit Zahlungsbelegen. Bereit, sie Milan zur Kontrolle vorzulegen. Dies dauerte meist etwas mehr als eine Stunde, und niemand wagte in dieser Zeit, die beiden zu stören. Vor allem seit jenem Tag, als sich einer der Gäste massiv über das Essen beschwerte und Lena gerufen werden musste. Eigentlich hätte sie oder Milan den Vorfall an der Kameraaufzeichnung sehen müssen. Eigentlich. Nach dem geschätzten achten Klingeln des Telefons war Lena mit zerzausten Haaren und einem unübersehbar irritierten Gesichtsausdruck die Treppe hoch gestapft. Ein gelegentliches Schäferstündchen mit einem röchelnden Despoten als Highlight in Lenas bedauerlichem Leben empfand wohl jeder Beteiligte an dieser Szene als unsäglich traurig. Außer Mariella, die allem Anschein nach von derartigen Eskapaden ihres Freundes und Gebieters keine Ahnung hatte.

  „Ciao, Lena!“, sagte Mia höflich, aber doch so emotionslos wie möglich und machte einen Schritt in die winzige Küche, um Peter noch einen schönen Tag zu wünschen. Täglich stellte sich dieselbe Frage, ob der Koch darin einen gutgemeinten Wunsch oder blanken Sarkasmus hörte. Sieben Tage in der Woche von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends im Dienst. Ohne Möglichkeit, sein erlerntes, jahrelang trainiertes fachmännisches Können auszuleben. Vom leidenschaftlichen Koch zu Milans Lehrling. Schutzlos seinen Launen ausgesetzt, jeder Handgriff diktiert. Und das alles für weit geringeren Lohn, als ihm für die geleisteten Arbeitsstunden zustand. Peter war das beste Beispiel, dass alt werden nichts war, worauf man sich freuen konnte. Wie immer dankte er für die guten Worte. Das höflich abgerungene Lächeln landete auf Mia wie eine Messerklinge, bevor er sich wieder daranmachte, die schmutzigen Töpfe und Pfannen zu schrubben. Blieb nur zu hoffen, dass ihm nicht wie seinem geknechteten Vorgänger auch eines der großen Stahlbehältnisse auf den Kopf oder gar ins Gesicht fiel.

  „Bis morgen, und viel Spaß noch!“, rief sie Kevin, der gerade neu angekommene Gäste bediente, mit verhaltener Stimme und einem Zwinkern zu. Ohne seine Antwort abzuwarten, verschwand sie.

  Wie froh sie war, dieses geruchsintensive Durcheinander aus Fett und aufgewärmtem Essen aus der Mikrowelle, durchzogen vom Aroma frisch gebrauten, seichten Kaffees, dem Schweiß der Gäste und deren teils schweren, teils billigen aufdringlichen Parfüms für diesen Tag los zu sein. Der Atem erschwerende Rauch des Raucherbereichs hatte sich in ihre Kleidung gefressen und begleitete sie nach Hause. Wie am Ende jedes Arbeitstags ließ sie symbolisch alle Ereignisse hinter der Türschwelle des Lokals. Meist erfolgreich, manchmal allerdings absolut nicht von Erfolg gekrönt. Dieses Ritual war eine der wenigen Gewohnheiten, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte.

  Mia genoss die wärmende Sonne des frühen Maitags und nahm einen tiefen Atemzug. Dann trat sie mit wenigen Schritten über den kleinen Parkplatz zur meistbefahrenen Straße der Stadt. Auf den herrschaftlichen, historischen Bau am Ende der Brücke mit dem schmucklosen Metallgeländer warf sie nur einen kurzen Blick. Mit einem Seufzer über die Absurdität der räumlichen Nähe vom 'Allegria' zum Gerichtsgebäude wandte sie ihre Augen bewusst dem altertümlichen Wasserturm vor ihr zu. Auch heute mied Mia den Weg zum Bahnhof über die Hauptstraße und ging stattdessen schnellen Schrittes durch die geschichtsträchtige Altstadt. Die Mischung aus nahezu unverfälscht restaurierten prächtigen Häusern und gediegenen, konzeptorientierten Geschäften, Restaurants und Kaffeehäusern unter den Laubengängen gefiel ihr. Irgendwann würde sie die Zeit finden, an den plangetreu angeordneten Tischen und Stühlen auf dem alten Pflaster vor den Lauben ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte zu essen.

  Sie mochte Feldkirch. Es war kleiner, überschaubarer und heimeliger als Innsbruck und glücklicherweise nicht von der ganzen Welt besucht. Die Nähe zur Grenze nach Liechtenstein und der Schweiz schlug sich zwar etwas in der Sprache nieder, aber nach fünf Jahren hatte sie diese Hürde großteils überwunden. Wenigstens in Bezug auf das Verstehen. Nach einem knappen Jahr in einem mittelmäßig bezahlten, aber doch geregelten Job in einem Import-Export-Betrieb in Innsbruck, war sie froh, mit Paul übersiedeln zu können. Edelsteine aus Indien, China und Afrika zu importieren, um irgendwelche Touristen damit zu schmücken, war nicht gerade Mias Traumvorstellung einer zufriedenstellenden Tätigkeit. Hinzu kam der Weg zur Arbeit durch die gewaltig bevölkerte Altstadt. Vorbei an Tand verkaufenden Souvenirläden und Lokalen, die ihre Sitzgruppen gewinnorientiert direkt auf die von tausenden Touristen und flanierenden Einheimischen belagerten, gepflasterten Wege platziert hatten. Den zahlenden Gästen musste selbst im Sitzen der Blick auf das weltberühmte 'Goldene Dachl' garantiert werden. Allein der Gedanke daran löste Unbehagen in ihr aus. Auch der manifestierten Vergeudung von Steuergeldern in Form des abstrusen roten Bahnhofsvorplatzes, und der neu gestalteten, kühl wirkenden Bahnhofshalle konnte sie nie viel abgewinnen. Dass die örtliche Veränderung nur Paul seinem beruflichen Ziel näherbrachte, war beim Umzug noch nicht absehbar.

  Ihren täglichen Weg durch die mit Kopfstein gepflasterten und von schnörkellosen Häusern gesäumten alten Gassen absolvierte sie in gewohnter Konsequenz. Ohne sich ablenken zu lassen. Der Zug wartete schließlich nicht. Wie immer huschte sie durch denselben Bogen des dicken Gemäuers, ließ das Zentrum der Stadtgeschichte hinter sich, warf einen kurzen Blick zur 'Schattenburg', die gebieterisch über der historischen Siedlung thronte, und eilte am Rand öffentlicher Parkplätze bis zur alten Turnhalle. »Der Volkserziehung v. dem Vaterlande … Juli 1904«, war auf die steinerne Tafel über dem Eingang in plastischen Blockbuchstaben gemeißelt. Mia bedauerte nicht nur heute, die Glanzzeiten der sportlichen Volkserziehung vor mehr als hundert Jahren verpasst zu haben. Sie hastete weiter. Vorbei am kleinen evangelischen Friedhof und den neuen Wohnblöcken mit den geschlossenen metallenen Geländern an den Balkonen, immer die Geleise zur Rechten, schnellen Schritts ihrem Ziel entgegen. Direkt auf die marmorbeschichtete Unterführung zu. Mia kannte den kürzesten Weg zu ihrem Bahnsteig. Trotzdem gönnte sie sich den Luxus, kurz vor dem klotzigen Abgang in die kleine Gasse zu schwenken und den Weg über den steinernen Durchgang zum Bahnhofsvorplatz zu nehmen. Ihr letzter Blick vor dem Eintritt in die bescheidene Bahnhofshalle schweifte, wie jeden Tag, kurz nach links. In Richtung der von den Nahverkehrshaltestellen abgesonderten Bushaltestelle am Rand des Geländes. Dorthin, wo freitags Busse in ehemalige jugoslawische Länder, die Türkei und wer weiß, wo sonst noch hin, abfuhren. Mia war überzeugt, dass es auch einen Bus nach Tadschikistan gab. Freitags. Aber heute stand dort kein Bus. Schließlich war Mittwoch.

  Der Zug war pünktlich und schwach frequentiert wie meistens zu dieser Tageszeit. Ohne ein Wettrennen mit Schülern, Beamten und anderen Fahrgästen absolvieren zu müssen, ergatterte sie einen der begehrten Plätze am Fenster. An ihrer völlig in Schwarz gehaltenen Kleidung, komplettiert von schwarzen, bequemen Schuhen, und noch mehr an dem Geruch, der ihr anhaftete, war nicht schwer zu erkennen, wie sie ihr Geld verdiente. Sie beobachtete die Fahrgäste. Verglich sich mit der einen oder anderen Mitreisenden. Wünschte sich, wie so oft, die Möglichkeit, sich am Ende der Schicht umziehen zu können. Ohne eine halbe Stunde auf den nächsten Zug warten zu müssen. Sie zuckte innerlich die Schultern. Weder war sie jemandem Rechenschaft schuldig, noch erschien ihr dieser Umstand dramatisch. Weitaus alarmierender empfand sie, dass sie jeden Tag nach sechs Stunden Arbeit so müde war, als hätte sie eine Doppelschicht lang in einem Bergwerk Steine geklopft.

  Mia zog den abgegriffenen, nie enden              wollenden Roman von Hermann Hesse aus der Tasche. Die Konzentration auf den Inhalt blieb leider aus. Ihr Gegenüber, eine blonde, prollig wirkende Frau in ihrem Alter brüllte ohne Punkt und Komma in ihr Smartphone. Mia fragte sich, wozu sie bei dieser Lautstärke überhaupt ein Telefon benutzte. Sie musste lachen bei diesem törichten Gedanken und wandte den Kopf dem Fenster zu. Stellenweise konnte sie ihr Gesicht, oder wenigstens die Konturen der Gesichtszüge schemenhaft erkennen. Dieser Blick ins Fenster war ihr wesentlich sympathischer als jener in den Spiegel. Zeigte er doch weder die Spuren physischer Überforderung noch Sorgenfalten oder gar die Leere im Gesicht nach einem Tag wie heute. 'Setzen Sie sich ordentlich hin!' Milans Zurechtweisung der Gäste hämmerte noch immer in ihrem Kopf. Sein großes, rundes, aufgedunsenes Gesicht mit den ausdruckslosen, in eine schier unendliche Leere mündenden dunklen Augen unter buschigen, schwarzen Brauen, der großen knolligen Nase und den aufgeworfenen Wurstlippen schien nicht aus ihren Gedanken verschwinden zu wollen. Je mehr sie versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, desto präsenter wurde Milan. Sie hörte ihn lachen. Er lachte sie aus. Zweifelsohne. Selbst wenn sie den Lautstärkeregler ihrer Gedankenwelt auf 'Aus' stellte, blieb sein dämonisches Grinsen. Mit viel zu weiß überkronten Zähnen im überdimensionalen Mondgesicht. Das Bild in ihrem Kopf widerte sie hochgradig an. Genau wie die stets gerötete wulstige Narbe in der unteren Hälfte seiner rechten Wange.              

  Eine gepflegte Landschaft zog am Zugfenster vorbei. Sanft von der Sonne beschienen und mit einer leichten Brise, die über die blühenden Bäume strich. Mia schalt sich dafür, dass sie selbst an einem derart herrlichen Frühlingstag nicht fähig war, von ihrer ungeliebten Arbeit abzuschalten. Die 20 Kilometer Zugfahrt schienen endlos. Das Buch klappte sie nach halber Fahrt zu. Ohne einen Absatz gelesen zu haben. Die blonde, pummelige Frau malträtierte noch immer das Telefon mit der glitzernden Hülle in ihrer Hand. Dem offensichtlich schwer gehörgeschädigten Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung entging bedauerlicherweise, wie sie in einem fort ihr überdimensionales Dekolleté zurechtrückte. Der gesammelte Dorftratsch eines Ortes an der Bahnlinie quoll ungebändigt aus ihr hervor. Detailgenau. Vom Inhalt der Mülltonne des Öko-Nachbarn hin zu den gelagerten Gegenständen im Kellerabteil des pensionierten Polizisten vom vierten Stock. Sie schien Aufzeichnungen zu führen, wie oft die 'komische Tusse, die in ihrem ganzen Leben keinen Tag arbeiten musste, aber das Haus am Ende der Straße geerbt hatte', ihre Fenster putzte, wer wann mit wem im Streit lag und wer morgens aus wessen Bett stieg. Mit einer vermutlich endlosen weiteren Liste obskurer Infos, die Mia zum Glück erspart blieben. Erleichtert seufzte sie, als die Frau, in der einen Hand die weiße Handtasche, mit der anderen das Handy ans Ohr pressend, hysterisch lachend eine Station vor ihr ausstieg. Froh, in ihr relativ geordnetes Leben zu kommen.

  Erst als die synthetische Stimme im Zug 'Altach' ankündigte, nahm Mia wahr, dass ihre Haare noch immer, wie von Milan befohlen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Beim Aussteigen löste sie schnell den Haargummi und schüttelte ihr braunes langes Haar, dem ein neuer Schnitt oder wenigstens das Schneiden der Spitzen nicht geschadet hätte. Aber Mia verwendete ihr Geld lieber für ihre gemeinsame Zukunft mit Paul als für profane Eitelkeiten. Schlichtheit war das Zauberwort. Wie der Bahnhof ihres Wohnorts. Eine als architektonisch ausgefallen gelobte, aber doch nichtssagende Haltestelle. Sie bedauerte, genau wie bei der Turnhalle von 1904, dessen Glanzzeiten nicht erlebt zu haben. In Symbiose mit den glücklichen Zeiten des Kastanienbaums auf der anderen Straßenseite. Bevor das Paar von einem oder mehreren karrieregeilen Baumeistern ihrer Freundschaft und Würde beraubt wurden.

  Der Weg bis nach Hause dauerte nahezu haargenau zehn Minuten. Dank gewissen Bewohnern eines alten, roten Hauses gegenüber dem Bahnhof brauchte sie meist 20. Auch heute war einer dieser Tage. Frau Stermons Gehör hatte in mehr als 40 Jahren schwer unter den vorbeifahrenden Zügen gelitten. Geschäftig hantierte sie mit den Mülleimern. Unklar, ob sie im Begriff war, diese zu füllen oder zu leeren. „Schönen guten Tag“, rief ihr Mia zu, als die alte Dame zu ihr herübersah. Frau Stermon, in eine kunterbunte Kleiderschürze gehüllt, die das Rot ihrer stets wirren Haarpracht aufgriff, lächelte kopfschüttelnd. „Alles in Ordnung, Frau Stermon?“, rief Mia, die nur drei Meter von ihr entfernt stand.

  „Ja, ja, Liebes. Ich wundere mich nur, dass du immer so schwarz gekleidet bist. Findest du das schön? Ein junger Mensch wie du sollte doch bunte Kleider tragen.“

  Wie jedes Mal erklärte ihr Mia in einer Lautstärke, dass es die ganze Straße hören konnte, dass sie von der Arbeit kam und deshalb so gekleidet war. Der Gedanke, dass sie so wenigstens den Rest der Straße nicht mehr über ihre Kleidungspräferenzen aufklären brauchte, ließ sie auflachen. Die Frage blieb, ob das Gehör das einzige war, das die vorbeifahrenden Züge an Frau Stermon geschädigt hatten. „Arbeiten Sie nicht zu viel!“, rief ihr Mia noch zu, aber Frau Stermon war wieder bei den Mülleimern und hantierte weiter.

  Am Ende des Gartenzauns patrouillierte eine weitere Bewohnerin des roten Hauses: Frau Helbert. Auch heute geschmackvoll gekleidet mit passendem Schmuck. Manchmal Gold, manchmal Modeschmuck, heute eine lange Kette aus ovalen Horngliedern mit stimmigem Armband. Dezent geschminkt, die gepflegten, schulterlangen, schwarzen Haare mit einer silbernen Spange im Nacken zusammengehalten. „Ein Drama, wie es mit Frau Stermon bergab geht, findest du nicht?“

  „Ich finde, Frau Stermon ist wie immer, seit ich sie kenne.“

  „Gleich verwirrt wie immer, mag sein. Aber dass sie nun den Inhalt der Mülltonnen umräumt, ist schon seltsam, nicht? Und die Karten sagen auch nichts Gutes, weisen sogar auf einen plötzlichen Todesfall im Haus hin.“

  „Vermutlich hat sie eine andere Vorstellung von Mülltrennung“, spottete Mia. „Und Kartenlegen halte ich für Mumpitz. Wie soll man denn aus bedrucktem Karton die Zukunft sehen können?“

  Frau Helbert zog gleichzeitig die Mundwinkel nach unten, die Augenbrauen nach oben und neigte den Kopf zur Seite. „Vielleicht sollte ich mal einen Blick in deine Karten werfen. Wer weiß, was das Schicksal für dich so bereithält? Wie geht’s übrigens deinem Mann? Oder bist du noch immer nicht verheiratet? Na ja – vielleicht besser so.“ 'Mann' sagte sie in einem Tonfall, als wollte sie 'Schimpanse' sagen, um dann doch ein gefälligeres Synonym zu verwenden.

  „Meinem Mann geht es blendend; danke der Nachfrage, Frau Helbert“, antwortete Mia, während sie kurz auf den schlichten Silberring am rechten Ringfinger spähte.              

  Die ältere Dame war ihrem Blick gefolgt und warf, ohne den geringsten Versuch, das Entsetzen in ihrem Gesicht zu verbergen, oder ihre Worte vorher zu überdenken, ein: „Also haben die Karten doch nicht gelogen. Ich hab’ nur die Unheilskarte falsch interpretiert.“

  „Sie verstehen sicher, dass ich mich beeilen muss, nach Hause zu kommen. Schließlich wartet dort auch noch Arbeit auf mich.“

  „Jaja, Herzchen, spute dich, damit du deiner Arbeit gerecht wirst. Und … pass auf dich auf!“

  „Danke, mach ich. Sie auch, Frau Helbert.“ Mia mochte Frau Helbert nicht sonderlich. Zum einen wegen ihrer unerklärlichen Aversion gegenüber Paul, und zum anderen, weil sie sie an ihre Mutter erinnerte. Man hätte sie leicht für Schwestern halten können. Nicht nur aufgrund ihrer ähnlichen Erscheinung. Auch die Art zu sprechen und zu gestikulieren, wies verblüffende Ähnlichkeiten auf. Und dazu die einstimmige Abneigung gegen Paul! Es war fast schon erschreckend. Wäre Mia, wie ihre Mutter esoterisch angehaucht, würde sie zustimmen, dass die Begegnung mit Frau Helbert als schicksalhaft gedeutet werden konnte. Aber sie glaubte nicht an Übersinnliches, Esoterisches, Spirituelles. Wenigstens gab sie sich größte Mühe, nicht damit in Berührung zu kommen. Ihrem Affirmationsbüchlein von Louise L. Hay mochte das wissenschaftliche Fundament ebenso fehlen. Aber mit Kartenlegen oder anderem esoterischen Blödsinn war es doch nicht zu vergleichen. So wich letztendlich die Schicksalstheorie zugunsten der Zufallsüberzeugung. Die Ähnlichkeit beruhte schließlich auf dem letzten Kontakt mit ihrer Mutter vor sechs Jahren. Wer weiß, wie sie sich in dieser Zeit verändert hatte. Vielleicht war ihr außer der Aversion gegen Paul nichts an Ähnlichkeit mit Frau Helbert geblieben.

  Das Einzige, das Mia mit der älteren Dame gemeinsam hatte, war der immer noch anhaftende deutsche Akzent. Bei Mia sicher gerechtfertigter als bei Marlene Helbert, die seit 35 Jahren in diesem Haus wohnte und mindestens ebenso lange mit einem waschechten Vorarlberger verheiratet war. Bis er vor drei Jahren auf einem seiner geliebten Berge ums Leben gekommen war. Mias Sprechweise hatte sich in den sechs Jahren, die sie in Altach lebte, eindeutig verändert. Zumindest nach ihrem eigenen Gutdünken. Aber so ganz konnte sie ihre norddeutsche Herkunft noch immer nicht verbergen. In diesem Moment war es ihr auch egal. Beflügelt von der Vorfreude auf ihr gemütliches Zuhause beschleunigte sie ihren Schritt.

 

 

 

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig. Dieser Roman ist die komplette Überarbeitung meines 2017 im Berenkamp Verlag erschienenen Romans »Bus nach Tadschikistan«

 

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